Das Erfolgsrezept heißt Beidhändigkeit Liebe prostep ivip Mitglieder, die Automobilindustrie hat sich in den letzten 25 bis 30 Jahren dramatisch verändert und wird das auch in Zukunft tun. Es ging los mit der Elektronik im Fahrzeug, dann folgten die verschiede- nen Stufen der Elektrifizierung und jetzt erleben wir die Welle der Software im Fahrzeug in allen ihren Ausprägungen – Fahrer- assistenzsysteme, autonome Fahrsysteme, Over-the-Air-Up- dates etc. Wir sind in einer Cloud-basierten Welt angekommen, in der digitale Ökosysteme unsere Produkte massiv beeinflussen. Die Frage, die ich mir in den 25 Jahren meines Berufslebens immer wieder gestellt habe, lautet: Wie erreichen wir bei all diesen, zum Teil disruptiven Veränderungen ein gewisses Maß an Stabilität? Das Zauberwort, auf das ich gestoßen bin, nennt sich Ambidextrie (d.h. Beidhändigkeit). 1976 durch den amerikanischen Organisationsdesigner Robert B. Duncan auf- gebracht, bezeichnet der Begriff die Fähigkeit von Organisationen, gleichzeitig innovativ bzw. flexibel und effizient zu sein. Gerade bei einem großen Unternehmen wie Volkswagen, dem ich angehöre, müssen wir Innovation und Heritage immer in der Balance halten. Es ist für uns und die gesamte Industrie erfolgs- kritisch, technologisch führend zu sein. Andererseits haben wir mit unseren Innovationen nur dann Erfolg, wenn die Kunden sie auch verstehen. Der zweite Aspekt der Ambidextrie betrifft das Spannungsver- hältnis zwischen Geschwindigkeit und Compliance. Gerade wir als Volkswagen haben aus den leidvollen Erfahrungen der Die- selkrise gelernt, dass wir sehr stark auf die Nachvollziehbarkeit und Stabilität unserer Produktprozesse achten müssen. Die Herausforderung besteht jetzt darin, das mit der notwendigen Geschwindigkeit zu vereinbaren. Beides muss vernünftig aus- balanciert werden, damit Produkte und Technologie absolut sicher und gesetzeskonform sind. Ambidextrie ist drittens wichtig, um neue Fähigkeiten und Erfahrung in Einklang zu bringen. Es gibt neue Themen, für die wir neue Kompetenzen benötigen. Unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter müssen Funktionsarchitekturen und Themen wie Software-defined Vehicle oder KI beherrschen, aber auch wissen, wie man ein volkswagentypisches Fahrgefühl entwickelt und was unsere Qualitätsanmutung ausmacht. Im Bereich der Engineering-IT, und das ist der vierte Aspekt der Ambidextrie, brauchen wir neue Cloud-basierte Services und neue Plattformen, um die Daten besser miteinander vernetzen zu können. Aber wir haben gleichzeitig eine bestehende und gewachsene Infrastruktur, welche die ganze Maschinerie am Laufen hält. Deshalb darf die Veränderungsgeschwindigkeit nicht zu hoch sein, weil sonst nichts mehr funktioniert. Wir brau- chen auch hier eine Balance zwischen neuen sowie bewährten und stabilen Lösungen. Editorial Eine wichtige Erkenntnis bei allen Transformationsprozessen ist, dass man die Menschen nicht mehr mitnimmt, wenn man die Veränderungen zu schnell und zu disruptiv gestaltet. Doch wie findet man die richtige Balance, ohne zu langsam zu werden? Ein wichtiger Erfolgsfaktor ist das Thema Teamgeist, den wir bei Volkswagen praktizieren. Auch gute Fußballmannschaften bestehen nicht nur aus jungen Wilden, sondern brauchen „alte Hasen“, die die jungen Spieler an die Hand nehmen. Dieses Zusammenspiel zwischen Alt und Jung wollen wir des- halb auch im prostep ivip Verein noch stärker fördern, indem wir mehr junge Leute in die Vereinsarbeit integrieren. Außerdem fördert der Verein gezielt den Gedankenaustausch zwischen Unternehmen unterschiedlicher Branchen, denn wir sind davon überzeugt, dass Ambidextrie die Fähigkeit erfordert, auch mal über den Tellerrand hinauszuschauen. Mehr zu diesem Thema erfahren Sie auch in unserer neuen Folge „Push to Future“ mit Dr. Henrik Weimer (AIRBUS) und mir (ab Januar 2024 auf dem prostep ivip YouTube Kanal). Das Gebot der Ambidextrie gilt auch für unsere Vereinsarbeit. Es wäre ein Fehler, sich nicht für die neuen Themen rund um die Funktions- und Software-Entwicklung zu öffnen, die unsere Mit- gliedsunternehmen umtreiben. Aber es wäre genauso verkehrt, dabei die Community abzuhängen, die sich mit den Heritage- Themen rund um Prozesse, Methoden und Tools beschäftigt, denn diese Themen haben den Verein stark gemacht. In Zukunft brauchen wir also nicht ein, sondern zwei glückliche Händchen, um beides optimal in Einklang bringen. Ihr Thomas Kamla Vorstandsmitglied des prostep ivip Vereins Leiter TE-Strategie, Digitalisierung & Compliance Marke Volkswagen Pkw – Volkswagen AG 2023-2 ProduktDatenJournal 3